Fragile Schöpfung – Text von Sarah Jonas

zur Austellung „Fragile Schöpfung“ Dom Museum Wien (2021-2022)

 

Scholle bezeichnet mehr ein Stück Boden. Der Begriff spricht von der emotionalen Bindung an bearbeitetes Kulturland: Lebensgrundlage und oft genau auch Lebensinhalt. Geht es verloren — sei es durch die Vertreibung der ansässigen Menschen oder durch Verwüstung des Boden — bedeutet das immer auch Identitätsverlust. Die künstlerische Erforschung derartiger Landstriche und ihrer jeweiligen aktuellen gesellschaftspolitischen Verhältnisse ist das Kernprojekt der deutschen Künstlerin und Umweltaktivistin Betty Beier.

Seit 1996 bereist Beier Gebiete in Deutschland, Island, China, Alaska, Brasilien und Paraguay, in denen Kulturlandschaften durch rezente Eingriffe des Menschen wie BAumaßnahmen oder den Klimawandel bedroht sind. Vor Ort nimmt die Künstlerin einen ein Quadratmeter großen Gipsabdruck des gefährdeten Gebiets: Der Boden als Speichermedium, das nicht nur auf molekularer Ebene, sondern auch sichtbare Spuren der auf ihm lebenden Wesen in sich trägt, wird durch diesen Akt scheinbar konserviert. Vom Muster dieser “Landnahme” stellt Beier im Atelier mithilfe des Gipsabdrucks einen Kunststoffreplik her. Zusammen mit Fundstücken und mittels Malerei wird der ursprünglich ästhetische Eindruck wiederhergestellt. Es entstehen inhaltlich aufgeladene “Bildskulpturen”, die Gemälden gleich an der Wand oder wie Plastiken im Raum gezeigt werden und seit 2012 zu dem Teil künstlerisch-umweltpolitischer Aktionen im öffentlichen Raums sind. Beiers “Erdschollenarchiv” dokumentiert kulturelle und ökologische Verlust und verweist auf das ausbeuterische Konsumverhalten heutiger, vor allem westlicher Gesellschaften.

Betty Beiers Arbeit an der Grenze zwischen Forschung, forensischer Spurensicherung, Aktivismus und Kunst greift verschiedenste kulturtheoretische Ansätze auf. Wie Fotografien bewahren die Erdschollen scheinbar objektiv die Erinnerung an einen Ort und ähneln durch ihre Beschaffenheit naturwissenschaftlichen Ausstellungsstücken. Durch die Kombination aus künstlerischer Gestaltung und umweltpolitischer Erzählung gelingt es der Künstlerin, jenseits einer reinen Bestandsaufnahme, Wirkungsmacht zu erzielen. In ihrer Exponiertheit im Ausstellungsraum verweisen die Erdschollen nicht nur auf die Kostbarkeit und Schönheit von Lebensräumen, deren letztes Zeugnis sie sind, sie werden auch zum Mahnmal der zwiespältigen Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt.

Sarah Jonas (2020):in „Fragile Schöpfung“, Edited by Johanna Schwanberg, Dom Museum Wien, S. 232f.

 
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